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Ein langer Weg zum Erfolg

Anstelle des Namens der Autorin hier ein kleines Vorwort zu dem Bericht. Wie Legasthenie als Herausforderung aufgefangen werden kann zeigt dieser anonymisierte Bericht einer Mutter. Das Dreieck der Inklusion besteht aus drei Akteuren: Eltern, Lehrer, Schulleiter, die einander zuhören, sich abstimmen und auf das Anliegen eingehen. Die Lernwege des Schülers begreifen lernen, die Kompensation der Symptome unterstützen, und damit einen offenen Weg zu einem guten Schulabschluss vorbereiten und begleiten.

Ein langer Weg zum Erfolg

Der Bericht einer Mutter zu ihrem Sohn Linos (Name geändert), bei dem 2008 eine Lese- und Rechtschreibschwäche festgestellt wurde und der 2018 erfolgreich sein Abitur absolvierte.

Linos ist Ende Juli geboren und bei der Einschulung hätten wir die Möglichkeit gehabt, noch ein Jahr zu warten, aber der Kindergarten nervte ihn und er wollte bei den Freunden bleiben. So startet er als jüngster in den neuen Lebensabschnitt. Als es dann mit dem Schreiben und Lesen nicht so flott ging, hatte jeder Verständnis.

Im 3. Schuljahr schließlich waren die Warnzeichen nicht zu übersehen: Legasthenie. Eine Überraschung war es nicht, ich selbst stand als Schülerin mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß, aber trotzdem war ich erstmal aus der Bahn geworfen. Die Grundschule konnte den Umstand zwar erkennen, hatte aber keine Möglichkeit in irgendeiner Weise zu fördern und warnte nur.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, über welche Quelle ich auf den Verein traf, aber die große Erleichterung nach den ersten Gesprächen und dem Studium der Vereinszeitung ist mir noch sehr gut in Erinnerung: Da traf ich auf Menschen, die sich mit der Sache auskannten, die schon viele Schüler und Eltern durch diese Zeit begleitet hatten, die Kampfgeist besaßen, sich mit Lehrern und Schulleitern auseinander setzten und sich des Problems annahmen. Ich wurde sofort Mitglied.

Jedes Kind ist anders, lernt anders, erobert sich die Umwelt auf anderen Wegen. Aber obwohl das alle wissen, sind wir enttäuscht, wenn unser Kind in einer Disziplin nicht mal das durchschnittliche Niveau schafft und wir fragen, was falsch ist an uns, was falsch ist am Kind. Wo müssen wir korrigieren? In den Gesprächen mit dem Verein begriff ich, dass hier erstmal nichts zu korrigieren ist, sondern dass es ums Wachsen lassen geht, dem Kind den Raum und die Zeit zu geben, in dem es ohne Beeinträchtigung seinen Weg finden kann. Es kam darauf an, den Umstand der Lese- und Schreibschwäche zu akzeptieren und sich mit ihm und den Lehrern zu einem eingeschworenen Team zu verbünden. Ziel musste es sein, diesen Umstand nicht zu einer Krise werden zu lassen, sondern die Lust am Lernen, die Lust an Schule, die Lust am Lesen und Schreiben – irgendwie – zu erhalten. Vorwürfe oder intensivierte Trainingsstunden waren da nicht hilfreich. Es war ja nicht darum, etwas Versäumtes nachzuholen, sondern etwas, zu dem die Zeit offensichtlich noch nicht reif war, auf die Zukunft zu verlagern, ohne die Gegenwart zum Spießrutenlaufen werden zu lassen.

Nach den Gesprächen mit dem Verein und dem Studieren der Zeitschrift fühlte ich mich gestärkt, sowohl mit den Lehrern ins Gespräch zu kommen, wie auch meinen Sohn – so jung er war – als Sparingspartner ins Boot zu holen „Huston, wir haben ein Problem“. Angstfrei und als Team wollten wir uns der Aufgabe stellen. Kleine aber regelmäßige Leseportionen blieben Pflicht und was das Einüben korrekter Rechtschreibung betraf, wurden wir kreativ. Ich hatte gelesen, dass Kinder besser lernen, wenn es mit Bewegung verbunden ist. Also dachten wir uns Ballspiele aus, anstatt nur am Schreibtisch zu sitzen. Mit selbstgeschriebenen, großen Karteikarten, auf die der Ball auftitschen musste, wollten wir Christophs Gehirn mit den verwirrenden Schreibweisen deutscher Rechtschreibung vertraut machen. Im Nachhinein muss ich sagen, es hat Spaß gemacht und vielleicht hat es auch Grundlagen gelegt, aber die Diktate wurden dadurch nicht besser!

Meine eigene Schulzeit war noch von Diktaten geprägt gewesen, nun las ich in der Vereinszeitschrift, dass man dieses Lehrmittel aus vielerlei Gründen nicht mehr so überzeugt einsetzte. Das erleichterte mich und öffnete mir den Blick für langfristige Lernprozesse, die man nicht mit Gewalt beschleunigen kann.

Also blieb unser Motto: akzeptieren, aber sich nicht verrückt machen lassen. Darauf vertrauen, dass es schon irgendwann klappt, sofern man nicht die Offenheit für das Thema und die Bereitschaft, es als Ziel zu sehen, verliert. Kurzgefasst: Die Nacht überstehen und hoffnungsvoll den Morgen erwarten.

Mit dieser Überzeugung sind mein Mann und ich zum Schulleiter des ansässigen Gymnasiums gegangen, wo schon unsere Tochter lernte und versuchten ihn zu überzeugen, dass Christoph ein pfiffiges Bürschlein ist, das eine Chance verdient hat, die Noten aber leider wegen der schwachen Schreib- und Leseleistung eher im unteren Mittelfeld lagen. Aber in Mathe? – Nun ja, Mathe. Im Nachhinein hat er sich als Mathetalent herausgestellt und sogar Angewandte Mathematik an der Fachhochschule studiert. Aber wenn man sich damals seine Rechenhefte anschaute, dann war man nah am Verzweifeln. Die Zahlen hüpften nur so auf den Zeilen, waren nur hingekrickelt und kaum zu entziffern. Ein Ergebnissatz fand sich nicht. Das Ergebnis stand irgendwo und ein Rechenweg war schwer auszumachen. Mich hat dies Geschreibsels schon nervös gemacht, wie bestürzt muss erst die Mathelehrerin gewesen sein, für die Ordnung, Systematik und lückenlose Nachvollziehbarkeit sicherlich ganz wichtige Werte waren. Nichts davon war in Christophs Matheheften zu erkennen!

Trotzdem hat der Schulleiter das Experiment gewagt. Auch er war mit dem Phänomen Legasthenie vertraut und wusste, dass es mit der Intelligenz der Kinder nichts zu tun hat. Aber natürlich war es eine Belastung, nicht nur für den Schüler, sondern auch für die Lehrerschaft. Man war bereit dazu. Das rechne ich unsere Schule hoch an, ich musste nicht für Linos Aufnahme im Gymnasium kämpfen, nur den Optimismus ausstrahlen, dass es zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit von Schüler, Schule und Eltern kommen wird, in dem wir uns nichts verschweigen und beschönigen, aber nach Wegen suchen, die bis zum Abitur führen.

Und so ist es schließlich ja auch gekommen. Da die Fachlehrer so oft wechselten, habe ich jedes Jahr zum Elternsprechtag jeden Gesprächstermin genutzt und mich unserer gemeinsamen Arbeit versichert. Alle Lehrer fanden es klasse, dass wir so offen das Thema angingen und versprachen, sich Gedanken zu machen, wie man Linos Leistung anders als durch Schreibarbeiten überprüfen könnte. Dieses Entgegenkommen war aber auch schon das Äußerste, zu dem man bereit war. Spezielle Förderkurse oder individuell aufbereitete Lernmaterialien konnte keiner aus dem Hut zaubern. Aber ich war damit einverstanden: wenn die Schule schon nicht helfen konnte, so sollten sich die Lehrerschaft möglichst neutral verhalten, Linos nicht drohen oder anstacheln und ihm die vielen Fünfen, die er kassieren musste und die immer vom Schulleiter gegengezeichnet wurden, nicht so bitter fühlen lassen.

Völlig überraschend bekamen wir während der Mittelstufe durch das Thema Inklusion Unterstützung. Wir erhielten eine zentrale Ansprechpartnerin für unsere Themen, machten Experimente mit dem Laptop und es wurden Nachteilsausgleiche vereinbart.

So sind wir mehr schlecht als recht durch diese Zeit geschlittert und haben mal dieses, mal jenes probiert, z.B. Texte vorlesen lassen und Literatur als Hörbuch gehört. In der Stadtbücherei habe ich alle Lernsoftware ausgeliehen, die verfügbar war, und wir hatten gemeinsam Spaß die beiden Hauptfiguren durch den Buchstabendschungel zu führen. Aber meine Vorstellung Linos könnte die Programme allein zum selbstmotivieren Training nutzen verfing. Er tat das bis zur Sekundarstufe 2 im Grunde alles nur für mich. Er wollte ein braves Kind sein und vertraute meinen Ratschlägen und meinem Optimismus. Im Nachhinein denk ich, es war vielleicht nicht verschwendete Zeit, aber man sollte von diesen Methoden nicht zu viel erwarten.

Der wirkliche Lernfortschritt kam erst in den drei Jahren zum Abitur. Linos begann mehr und mehr eigene Lernziele zu entwickeln, wurde neugieriger, ehrgeiziger und zielstrebiger. Er wollte ein sehr gutes Abitur machen und begann auch Bücher zur Selbstoptimierung zu lesen. Er machte das auf eigene Faust und nur zufällig bekam ich mit, dass er Dale Carnegies Buch „Wie man Freunde gewinnt“ mit großem Interesse verschlag, als Hörbuch, allerdings im Original, also auf englisch – irgendwo im Internet heruntergeladen! Ich war von den Socken! Er übernahm mehr und mehr die Führung für seinen Lernfortschritt. So schrieb er Hausaufgaben und Referate am Laptop und nutzte die Rechtschreibkorrektur, um sich korrigieren zu lassen, die roten Unterkringelungen waren ein deutliches Zeichen, und so - ohne Vorwürfe oder Enttäuschungen des Lehrers oder der Eltern, begann er, sich die Schreibweisen einzuprägen.

Die Abiturarbeiten hat er dann wie alle anderen auch mit der Hand geschrieben, Rechtschreibung zählt, aber es sind auch nur wenige Prozentpunkte. Er wählte Mathe und Chemie, da ist der Textanteil so und so nicht so hoch und ziemlich standardisiert.

Inzwischen hat er auch sein Studium abgeschlossen, ist berufstägig und überzeugter Steuerzahler. „Ich habe Glück gehabt“, sagt er. „Ich hatte die vorwurfsfreie Unterstützung, die ich brauchte, um meinen eigenen Lernweg zu finden. Es hat meine Kindheit nicht überschattet, sondern mich trainiert, Vertrauen in mich selbst zu behalten, Teams zu bilden, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, mit eigenen Defiziten offen und selbstbewusst umzugehen und Unterstützung anzunehmen, wo es nötig ist.“ All das ist vielleicht sogar eine bessere Vorbereitung aufs Leben gewesen als eine optimale Rechtschreibung. Denn in Zeiten computerunterstützten Schreibens ist das so und so nicht mehr die zentrale Qualifikation. Alles andere aber schon!

An dieser Stelle unser Dank an den Verein. Hier habe wir die notwendigen Informationen und Ermutigung erhalten, die uns den Weg geebnet haben. Vermutlich hat der Verein noch mehr bewirkt, denn die Offenheit unseres Gymnasiums, die Einrichtung einer Inklusionsbeauftragten und die Bereitschaft, alternative Prüfverfahren einzusetzen, das kommt ja auch nicht von ungefähr. Da hat sicherlich die Arbeit des Vereins zu beigetragen, dass hier die Institutionen den wissenschaftlichen Erkenntnissen gefolgt sind und ihre Gewohnheiten korrigierten. Wir haben davon profitiert und sagen danke.

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