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Nachruf Prof. Breuer

NACHRUF PROF. DR. DR. H.C. HELMUT BREUER (1927-2018)

Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Breuer ist am 10.01.2018 im Alter von 90 Jahren von uns gegangen.
Helmut Breuer war Professor für Pädagogische Psychologie und Direktor der Sektion Erziehungs- wissenschaften an der Ernst-Moritz-Arndt- Universität (E-M-A) Greifswald.
Sein gesamtes Forscherleben widmete Breuer dem humanistischen Anliegen, Kinder vor dem unerwar- teten Scheitern im Anfangsunterricht der Schule – mit all den möglichen negativen Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung – zu bewahren. Sein Lebensmotto war: „Nicht warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist“, sondern schon rechtzeitig im frühen Kindesalter durch eine vorbeugende prophylaktische und ganzheitliche pädagogische Förderung Kinder zu unterstützen. Prof. Helmut Breuer hat gemeinsam mit seiner wissenschaftli- chen Weggefährtin Frau Dr. Maria Weuffen für Kinder mit Schwierigkeiten in der Entwicklung, besonders hinsichtlich des Lesen- und Schreibenlernens, sehr Entscheidendes bewirken können.
Die Idee prophylaktisch Lernschwierigkeiten zu behandeln ist aus praktischen Forschungserfahrungen in der E-M-A Universität hervorgegangen. Schon 1964 gründete Breuer in seinem Fachbereich an der Universität eine Erziehungsberatungsstelle. Dies war damals eine Rarität, weil es nur fünf Erzie- hungsberatungsstellen in der DDR gab. Es ist deswegen erkennbar, dass es sich um eine ganz besondere Einrichtung handelte. Für Breuer war es an dieser Stelle entscheidend, dass Forschung, Lehre und Praxis, wie Beratungstätigkeit, pädagogisches Handeln und Therapie, miteinander verflochten waren.

 


Schon früh wurde durch das Wirken der Erziehungsberatungsstelle sichtbar, dass es viele Kinder gab, die wegen zurückgebliebener motorischer Entwicklung, Sprachentwicklungsstörungen und Sprachentwicklungsverzögerungen oder im sprachlichen kommunikativen Verhalten insgesamt auffällig waren und deren Eltern oder Kindergärtner Beratung und Therapie suchten. Und viele von diesen Kindern hatten später in der Schule Probleme mit der Aneignung der Schriftsprache. Auf der Basis dieser Forschungserkenntnisse entstand die Idee einer geeigneten Diagnostik und einer auf die Dia- gnostik bezogenen Förderung.

So gingen aus der praktischen Arbeit der Bera- tungsstelle und den zugehörigen wissenschaftlichen Untersuchungen die bekannten Differenzierungs- proben DP1, DP2 und später die DP0 sowie das Kurzverfahren zur Überprüfung des lautsprachli- chen Niveaus (KVS) hervor. Breuer und Weuffen berichteten über die DP1 schon 1968. Lebenslauf von Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Breuer.

Helmut Breuer wurde am 26.11.1927 in Weißkirchen an der Neiße (Bílý Kostel nad Nisou, heutiges Tschechien) geboren. Die Mutter war Textilarbeiterin und der Vater Maschinenfüh- rer in einer Papierfabrik. Von 1947 bis 1951 studierte Breuer Pädagogik, Psychologie und Biologie an der Pädagogischen Fakultät der Universität Jena. 1957 erfolgte die Promotion zum Dr. paed. in Pädagogischer Psychologie. Im Jahr 1958 wurde Breuer zum Dozenten für Pädagogische Psychologie und 1967 zum Hochschuldozenten an der Universität Greifs- wald berufen. 1974 folgte die Berufung zum ordentlichen Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Greifswald. Im Jahr 1989 wurde ihm durch die Universität Joensuu in Finnland die Ehrendoktorwürde verliehen. Schon bald setzten sich Breuer und Weuffen dafür ein, dass ein pädagogisch orientiertes Screening- verfahren (Grobsiebverfahren) mit allen Kindern in Kindergärten mindestens ein Jahr vor Schulbeginn durchgeführt werden sollte mit dem Ziel, solche Kinder aufzuspüren, deren auf die Lautsprache bezogenen Wahrnehmungsfähigkeiten noch nicht ausreichend entwickelt sind, um später in der Schu- le das Lesen und Schreiben mit Freude und ohne Probleme erlernen und dem Unterrichtsgespräch folgen und sich adäquat äußern zu können.
Im Schulalter nachzuhelfen, ist für die Kinder oft mit dem Gefühl des Scheiterns verbunden, was zu erheblichen seelischen Belastungen, zu verminderten Selbstwertgefühlen, zur Segregation und auch zu Schäden der Persönlichkeit führen kann. Denn im Schulalter entwickeln die Kinder ein Problem- bewusstsein, während eine Förderung im Kinder- gartenalter noch ganz ohne seelische Folgeproblematik möglich ist (Breuer und Weuffen 2006, S.21; Breuer 2000; Lehmann-Breuer 2004; Krause 1997; Hotulainen, Lappalainen, Ruoho und Savo- lainen 2010).
Was heutzutage allgemein bekannt ist – nämlich der Gedanke des prophylaktischen Screenings und einer damit verbundenen Förderung –, rückte in Westdeutschland erst richtig ins Bewusstsein, als Breuer 1984 auf dem Kongress des Bundesver- bandes Legasthenie in Essen ein Referat hielt und davon berichtete, welche Erfolge die prophylaktische Förderdiagnose und Förderung in Greifswald hatten. Erst das Projekt des Sonderforschungsbe- reichs „Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter“ (Skowronek und Marx 1989; Beck 1989) führte in Westdeutschland zur Entwicklung eines Vorschul-Screenings der „Phonologischen Bewusstheit“. Damit fasste der Gedanke präventiver Förderung vor dem Schuleintritt ab 1984 auch in der alten BRD Fuß (vgl. Dummer-Smoch 2012).
Aus den Erkenntnissen der Tätigkeitstheorie bedeutender russischer Forscher der kulturhistorischen Schule (Wygostki, Luria, Leontjew, Anjanjew, Lewi- na u.a.), ebenso durch Hinweise von Galperin (Interiorisierungstheorie), und auch aus Erkenntnissen von Piaget und vielen weiteren österreichischen, schweizer und deutschen Forschern zur kindlichen Sprachentwicklung haben Breuer und Weuffen und ihre Mitarbeiter die Differenzierungsproben entwi- ckelt und in Längsschnittuntersuchungen bestätigt. Die Entwicklung der Differenzierungsprobe war theoretisch sehr gut begründet. Breuer und Weuf- fen machten es nachweislich möglich, lautsprachli- che Wahrnehmungsfähigkeiten, die sich im Vorschulalter noch weitgehend im Verborgenen entwickeln, aber auf der nächsten Stufe, nämlich bei der Aneignung der Schriftsprache wichtig werden, zu diagnostizieren und so der Förderung zugänglich zu machen.
Im Rahmen der Sprachwahrnehmung sind es die optisch-graphomotorischen, die phonematischen, die artikulatorisch-kinästhethischen, die melodischen und die rhythmischen Differenzierungsleistungen. Die sprachbezogene Wahrnehmung, auch Verbosensomotorik (VSM) genannt, wird als Ensemble begriffen. Daher macht es nur Sinn, alle fünf Sprachwahrnehmungsleistungen abzuprüfen. Dies geschieht im Rahmen der Differenzierungs- probe mit kindgerechten Aufgaben (siehe Kasten).
Mit der optischen Differenzierung meinen Breuer und Weuffen (u.a. 1968, 1981, 1986) die Fähigkeit, durch optische Sinnesleistungen physische und zweckmäßige Ganzheiten von Gegenständen/ Objekten und Zeichen voneinander zu differenzieren und zu erkennen.
Unter der phonematischen Differenzierung versteht man die basale Fähigkeit, aus dem vom Ohr auf- genommenen Strom des Sprachschalls die besondere Lautstruktur unserer Sprache zu erfassen, um diese verstehen zu können. Um Wörter zu unterscheiden, wie Nagel und Nadel (Aufgabe in der Differenzierungsprobe), müssen die bedeutungsun- terscheidenden Sprachlaute (Phoneme), hier [g] und [d], differenziert wahrgenommen werden kön- nen. Die Fähigkeit, die Lautstruktur der Mutterspra- che zu erfassen, bildet sich schon zu Beginn des Spracherwerbs heraus und setzt ein intaktes peripheres und zentrales Gehör voraus. Die Wahr- nehmung der Phoneme ist mit den artikulatorisch- kinästhetischen Sprachwahrnehmungsleistungen verbunden.
Unter der kinästhetischen Differenzierungsfähigkeit versteht man die motorische Produktion der fein- motorischen Muskelbewegungen in den Sprachorganen und die damit verbundenen Regulations-, Kontroll- und Analyseprozesse. Ursachen für ein abweichendes Artikulationsergebnis können ein nicht intaktes Gehör, mangelnde Gliederungsfä- higkeit auf der innersprachlichen Ebene oder auch eine sprechmotorische Unzulänglichkeit sein.
Als melodische Differenzierungsfähigkeit wird die Fähigkeit bezeichnet, melodisch-emotionale Faktoren der Lautsprache zu unterscheiden, in der Schriftsprache zu erkennen und deren Bedeutung in Verbindung mit anderen Code-Merkmalen zu verstehen. Die melodische Differenzierungsfähigkeit macht es möglich, ...